Die Kunst des Tora-Schreibens

New Yorker Schriftgelehrter Neil Yerman zu Gast in der liberalen Synagoge

Von Wolfhard Truchseß, Deister-und-Weser-Zeitung, 20.05.2014



Aufmerksam beobachten Besucher in der liberalen Synagoge Neil Yerman bei einer Demonstration seiner Schreibkunst.
Hameln. Sein Handwerkszeug besteht aus einem angespitzten Bambusrohr, der Feder einer Pute, Schwämmchen, einer viele Hundert Jahre haltbaren Tinte, Skalpellen, Pergament von koscheren Schafen, Ziegen, Kälbern oder Rehen und anderen unscheinbaren Utensilien, mit denen der aus New York kommenden Tora-Schreiber Neil Yerman in den vergangenen Wochen Tora-Rollen jüdischer Gemeinden in Deutschland inspizierte und restaurierte. An einem seiner letzten Arbeitstage demonstrierte er in der liberalen Synagoge seine kalligrafische Kunstfertigkeit und erklärte Form und Herstellung der heute gebräuchlichen Tora-Rollen, welche die fünf Bücher Mose enthalten.

Das Besondere einer Tora-Rolle: Sie ist immer von Hand geschrieben und enthält exakt 304 805 Buchstaben. Geschrieben wird sie von dem „Sofer“, dem Tora-Schreiber, jeweils von Montag bis Freitag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. „Nur am Freitag ist mein Arbeitstag kürzer“, erzählt Neil Yermann, „denn an diesem Tag muss ich mich am späten Nachmittag auf den Schabbat vorbereiten.“ Rund ein Jahr benötigt Yermann, um eine Tora-Rolle fertigzustellen. „Andere Tora-Schreiber in Israel benötigen dazu vielleicht auch nur ein halbes Jahr“, macht er Unterschiede in seiner Zunft deutlich. Entsprechend klein ist auch die Zahl der Rollen, die er selbst im Verlauf von 20 Jahren geschrieben hat: „Acht Rollen sind von meiner Hand entstanden“, blickt der 65-Jährige auf seine Zeit als Sofer zurück. „Mehr will ich auch nicht schreiben. Jetzt konzentriere ich mich ganz auf die Restaurierung schadhafter Tora-Rollen, die Ausbesserung von Fehlern und ihre Reinigung.“ Das mache mittlerweile den größten Teil seiner Tätigkeit aus. Auch die Tora-Rolle, die vor drei Jahren in die neu erbaute Synagoge in Hameln gebracht wurde, war von Yerman restauriert worden, damit sie als koscher akzeptiert werden konnte. Denn koscher ist eine Tora-Rolle nur, wenn sie fehlerfrei ist und kein Buchstabe einen anderen berührt.

Rund 1200 Buchstaben enthält jede der meist 40-zeiligen 245 Spalten einer Schriftrolle mit rund 30 Buchstaben pro Zeile, auf 63 bis 64 Tierhäute geschrieben, die mit der Sehne eines Tiers zusammengenäht sind. Wobei die hebräische Schrift eine besondere Eigenart hat: Sie kennt keine Vokale, sondern nur Konsonanten. „Nur Konsonanten“ würde auf Hebräisch „NR KNSNTN“ geschrieben. Auch stehen die Buchstaben nicht auf einer Linie sondern hängen an einer mit einem Knochenmesser auf das Pergament geritzten Linie, oder sind, bildlich gesprochen, wie an einer Wäscheleine aufgehängt. Jeder Buchstabe hat auch eine Bedeutung als Zahl. In den geistigen Tiefen der fünf Bücher Mose verbergen sich deshalb viele Interpretationen.

Von einem Sofer wird erwartet, dass er die Rollen in einem gleichmäßigen Stil verfasst, vor allem aber, dass er die Texte nicht aus dem Gedächtnis schreibt, sondern von einer als koscher zertifizierten Tora-Rolle oder einem korrekt gedruckten Buch mit den fünf Büchern Mose übernimmt und sich täglich mit Gebet und Segen auf seine Arbeit vorbereitet. Nur selten enthält eine Tora-Rolle den Namen des Sofers. „Aber am Stil der Schrift lässt sich manchmal erkennen, dass sie von einem bestimmten Schreiber niedergeschrieben wurde“, erklärt Yerman am Beispiel einer vor etwa 280 Jahren in Tschechien entstandenen Tora-Rolle, die in seine Werkstatt gelangt war. „15 Jahre später hatte ich eine andere Rolle zu restaurieren. Sie musste aus der Hand desselben Schreibers gewesen sein.“